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Die Angehörige, der Konsument – geschlechtsspezifische Aspekte der Betreuung

Zahlreiche Studien zeigen Unterschiede im Zugang von Männern und Frauen zu den Angeboten des Gesundheitssystems. So hält die ÖGK fest, dass Männer weniger oft ärztliche Behandlung in Anspruch nehmen, obwohl sie häufiger krank sind. Auch Vorsorgeuntersuchungen werden von Frauen stärker genutzt. Gleichzeitig orientiert sich die Medizin stark an Männern: Gender Medicine zeigt geschlechtsspezifische Unterschiede bei Krankheitsverläufen, Risikofaktoren und Symptomen auf. Natürlich beobachtet auch die Suchthilfe, wie sich der Konsum von Substanzen und die Inanspruchnahme von Hilfsangeboten bei den Geschlechtern unterscheidet. Wir haben 2023 nicht nur das Verhältnis in Bezug auf Konsumierende untersucht, sondern auch einen differenzierten Blick auf die Angehörigen geworfen, die im Dialog Beratung in Anspruch nehmen.

Der Eindruck, den wir viele Jahre hatten, hat sich dabei bestätigt: Während rund ein Viertel der Klient_innen in unseren Einrichtungen weiblich ist, sind es im Bereich der Angehörigen rund drei Viertel, das heißt, dass sich das Geschlechterverhältnis im Bereich der Angehörigen umdreht. Mehr als ein Drittel derer, die sich an uns wenden, sind Mütter, die Anzahl der Väter hingegen liegt bei 9%. Etwas häufiger kommen beide Elternteile zur Beratung. 

Vergleicht man diese Beobachtungen mit den Daten zur allgemeinen Nutzung von Gesundheitsangeboten, lassen sich einige Theorien aufstellen, die auch auf unseren Erfahrungen basieren:

  • Männer nutzen (medizinische) Unterstützungsangebote für sich weniger als Frauen. Das gilt offensichtlich in besonderem Maß, wenn scheinbar nicht die eigene Gesundheit betroffen ist, sondern Belastungen durch die Erkrankung einer anderen Person entstehen.
  • Das gilt auch für psychotherapeutische Angebote allgemein, die zu zwei Dritteln von Frauen genutzt werden: Über Probleme zu sprechen, scheint nach wie vor vielen Männern schwerzufallen. So verhält es sich auch mit der eigenen Betroffenheit durch die Suchterkrankung von nahen Menschen.
  • Care Arbeit wird nach wie vor in erster Linie von Frauen geleistet, das heißt, sie fühlen sich in größerem Ausmaß für Familienmitglieder und deren Wohlbefinden verantwortlich. 
  • Suchterkrankungen sind bei Männern häufiger, aber auch auffälliger. Somit könnten Frauen massiver vom Konsum betroffen sein, insbesondere in Partnerschaften oder wenn der Sohn noch zu Hause wohnt.

Auch in der Angehörigengruppe im Dialog zeigt sich ein ähnliches Muster: Es sind vor allem Frauen, die sie regelmäßig nutzen, um sich mit anderen auszutauschen. Oft wird dabei beklagt, dass sich Männer im Umfeld aus der Verantwortung stehlen, stärker abgrenzen oder die Suchterkrankung der betroffenen Person verleugnen. 

Ob sich daran etwas ändert, liegt nur in geringem Maß im Einflussbereich der Suchthilfe, vielmehr spiegeln sich hier tradierte Rollenbilder wider, die sich nur durch einen gesamtgesellschaftlichen Prozess verändern (lassen). Hier spielt auch der Diskurs um (Non-)Binarität herein, von dem Angehörige insbesondere von Jugendlichen vermehrt betroffen sind. 

Gerade in Zeiten, in denen Gender auch zum Politikum geworden ist, lässt sich schwer abschätzen, in welche Richtung es gehen wird. Im Dialog  ist geschlechtsspezifisches Arbeiten seit mehr als 20 Jahren ein Standard – auch in der Angehörigenberatung und -betreuung. Das umfasst auch, Angebote für alle Interessierten attraktiv zu machen – und in diesem Fall den Männeranteil zu erhöhen.